junge Welt, 08.11.2002 Interview Delegationsreisen in den Irak: Propaganda für Saddam Hussein? junge Welt sprach mit Livia Leykauf. Sie arbeitet bei Caritas Schweiz F: Sie haben kürzlich mit Caritas Internationalis den Irak besucht. Was war das Ziel Ihrer Delegationsreise? Die Reise stand unter dem Titel »Solidarität mit dem irakischen Volk«. Wir wollten uns einen Eindruck davon verschaffen, wie es den Menschen im Irak heute geht. Durch das totale Handelsembargo ist die Versorgungslage im Land erschreckend. Es herrscht nicht nur im medizinischen Sektor Mangel, sondern es fehlt an Lebensmitteln und sauberem Wasser. Ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahre sind mangel- oder unterernährt. Jede zweite schwangere Frau leidet unter Blutarmut. Ein neuerlicher Krieg würde eine Flüchtlingswelle auslösen und die durch die Sanktionen geschwächte Bevölkerung in noch größere Not treiben. Die Caritas spricht sich daher klar gegen einen Krieg aus. Die humanitäre Lage ist schon prekär genug. Derzeit werden Sanitätsfahrzeuge, Verbandsstoffe, Spritzen oder Infusionen angeschafft, ebenso Decken oder Wassertanks. Diese werden dringend für die tägliche medizinische Versorgung benötigt. Die Waren stehen aber auch im Kriegsfall für die Not- und Überlebenshilfe der Zivilbevölkerung zur Verfügung. Für diese Nothilfe hat das internationale Caritas-Netz fast 500000 Euro versprochen. F: Was geschieht neben dieser Nothilfe? Caritas Irak hat etwa 140 Mitarbeiter, allesamt Irakerinnen und Iraker. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit dem irakischen Roten Halbmond. Über das ganze Land verteilt unterhalten wir 20 verschiedene Zentren für das so- genannte »well-baby-Projekt«. Dort werden unterernährte Kinder und Mütter mit Zusatznahrung unterstützt. Da auch die Wasserversorgung in den letzten Jahren bedrohlich nachgelassen hat, betreibt Caritas im Irak verschiedene Wasseraufbereitungsanlagen. Zurück aus dem Irak haben wir einen Aufruf verfaßt, alles gegen den drohenden Krieg zu unternehmen. Wir appellieren an die entsprechenden Regierungen wie an die UNO, diesbezüglich wirklich alles in Bewegung zu setzen. F: Hatte Ihre Delegation auch Kontakt mit offiziellen irakischen Stellen? Wir hatten ein Treffen mit Vizepremier Tariq Aziz und dem irakischen Gesundheitsminister. Darüber hinaus hatten wir Gespräche mit Vertretern der UNO in Bagdad. Ansonsten haben wir schwerpunktmäßig mit unseren Mitarbeitern und mit der Bevölkerung gesprochen. Wir wollten mit den einfachen Menschen zusammenkommen, uns austauschen und damit auch klare Zeichen zu setzen. F: Von Kritikern wird bisweilen behauptet, solche Reisen in den Irak würden einzig die dortige Führung stärken und von Saddam Hussein zu entsprechenden Propagandazwecken genutzt. Als humanitäre Organisation können wir die Augen vor der Situation nicht verschließen. Die Menschen im Irak sind am Verhungern. In unserem letzten Report über die Sanktionen hatten wir bereits gesagt: Ein Volk wird geopfert. Man muß die irakische Bevölkerung unterstützen, und zwar gezielt und bewußt. Wir verweisen auf die humanitäre Hilfe, die wir direkt leisten. Unterernährte Kinder und Mütter bekommen Hilfe. Die Krankenhäuser, die in ausgesprochen marodem Zustand sind, werden unterstützt. Das war Schwerpunkt unserer Reise. Angesichts der Dramatik können wir doch nicht die Hände in den Schoß legen. F: Die irakische Führung hat jetzt in der Vergangenheit mehrfach betont, einem US-Krieg zu trotzen. Wie haben Sie Land und Leute am Vorabend eines drohenden Krieges erlebt? Ich war das erste Mal im Irak. Für mich war es sehr überraschend, sehr offenen, freundlichen Menschen zu begegnen. Hierzulande wird ein sehr starkes Aggressionspotential suggeriert, so daß man das Gefühl hat, man kommt in ein Land, in dem alle Menschen eine Bombe in der Hosentasche tragen. Das ist freilich nicht so. Die Menschen haben vielmehr sehr große Angst vor dem Krieg, sie legen soweit es geht Lebensmittel zur Seite. Ärzte erzählten uns, die Kinder fürchten, wenn sie Flugzeuge hören, der Krieg habe vielleicht schon begonnen. F: Welche konkreten Schritte sind notwendig, um die Situation der Bevölkerung im Irak umgehend zu verbessern? Die Sanktionen bluten das Volk völlig aus. Das Embargo schießt am Ziel vorbei. Der Regierung geht es dadurch nicht schlechter, aber den einfachen Menschen. Man sieht Geschäfte, in denen man alles bekommen kann, wenn man Geld hat. Das Gros der Bevölkerung hat kein Geld. Die Sanktionen sind nicht nur unmenschlich, sondern kontraproduktiv. Interview: Rüdiger Göbel